2. Gefühle wahrhaft fühlen
Sri Ramana Maharshi (*1879, †1950), der als der größte Weise und Heilige der Neuzeit bezeichnet wird, sagte: „Zuerst musst Du mit dem Leben eins werden. Dann wirst Du mit dem Bewusstsein eins. Danach wirst Du eins mit Glückseligkeit.“ (Quelle: Ramana Maharshi: Die Suche nach dem Selbst. Ausgewählte Gespräche herausgegeben und eingeleitet von Lucy Cornelssen. Ansata Verlag Interlaken 1985).
Aus dieser Erkenntnis leitet sich der zweite Schritt ab. Eins mit dem Leben zu sein beinhaltet die Bereitwilligkeit, alles zu fühlen und zu erfahren, was ist.
Etwas ist sehr klar: Wenn Du alle Gefühle vollkommen fühlst, dann löst das Ich sich auf. Denn das Ich besteht nur aus: „Ich will“ und „Ich will nicht“. Ein zweijähriges Kind in seiner Trotzphase verhält sich genauso wie das Ich, indem es sagt: „Ich will das, ich will jenes nicht.“ Dieses Verhalten ist für ein zweijähriges Kind angemessen, für einen Erwachsenen jedoch ganz und gar nicht. Ist die Bereitwilligkeit vorhanden, alles vollkommen zu fühlen, so wie es ist, verbrennt dieses Ich. Es bedeutet das anzunehmen, was ist. Es bedeutet auch, sich dem hinzugeben, was ist. Und es zeigt sich dann sehr schnell eine der grundlegenden Paradoxien: Wenn Du den Schmerz annimmst, dann gibt es kein Leid. Das Leid in der Welt wird dadurch hervorgerufen, dass der Mensch dem Schmerz davonzurennen versucht. Erst dadurch entsteht der Albtraum.
In der Vergangenheit gab es im großen und ganzen zwei Wege des menschlichen Wachstums: der östliche spirituelle und der westliche therapeutische Weg. Während letzterer mit den Gefühlen auf die Weise arbeitet, dass Gefühle verstanden, erklärt und ausgedrückt werden, bestand der östliche Weg im wesentlichen darin, nur noch der Beobachter zu sein und sich dadurch von den Gefühlen zu dissoziieren. Beide Wege führen nur ein Stück weit und werden dann zur Sackgasse.
Es gibt einen dritten Weg: Alle Gefühle, die auftauchen, alle inneren Erfahrungen bereitwillig anzunehmen und zu erfahren – und nichts zu tun, also still zu bleiben. Es ist das Gegenteil von Unterdrücken, aber auch von Ausagieren. Ganz in das Gefühl hineinsinken, ganz zu dem Gefühl werden, so dass das Gefühl verbrennen kann, das führt in immer tiefere Schichten. Wenn auf diese Weise das Ich zurücktritt, nichts wollend, nicht eingreifend und nicht involviert, dann geschieht intensive innere Transformation. Die radikale Verschiedenheit dieses dritten Weges ist nicht so leicht zu verstehen.
Diese Entdeckung stammt von Eli Jaxon-Bear, der wie wenige sonst die verschiedenen spirituellen Wege nacheinander beschritten und erforscht hat und gleichzeitig in der westlichen Psychotherapie versiert und kompetent ist. In meinen eigenen Forschungen habe ich (bisher!) ein einziges Mal ein gleiches Arbeiten auf diesem dritten Weg entdeckt: bei dem Mystiker und spirituellen Lehrer Johannes Tauler (*um 1300, †1366), einem Schüler von Meister Eckhart. Tauler nennt es das „nach innen Gehen“ und das „Ausleiden“ der Gefühle und inneren Erfahrungen. Tauler prägte so sinnige Wortverbindungen wie „der Aufstieg in die Tiefe“ oder „der grundlose Abgrund“. (siehe Johannes Tauler: Das Segel ist die Liebe. Benzinger Verlag, Zürich und Düsseldorf. 1998 S. 113ff)